Die Taxonomie der Gattung Epipactis ZINN 1757
und die außereuropäischen Arten

Innerhalb der Familie Orchidaceae gehört Epipactis zur Unterfamilie Epidendroideae, Tribus Neottieae. Weitere Mitglieder dieser Tribus und damit nähere Verwandte sind u.a. Limodorum, Neottia + Listera sowie Cephalanthera. Am zweckmäßigsten lässt sich Epipactis in die 2 gut unterscheidbaren Sektionen (Untergattungen) Epipactis und Arthrochilum Irmisch 1842 unterteilen.
Zu wissen ist dabei, dass einerseits Arthrochilum überflüssigerweise auch schon mal zur Gattung hochgejubelt wurde (SZLACHETKO, Die Orchidee 54: 587-589 [2003]), und dass andererseits SCHLECHTER (Monographie der Orchideen Europas und des Mittelmeergebietes: 268 + 275 [1928]) 2 weitere Sektionen Cymbochilium und Megapactis geschaffen hat, die nach heutiger Sicht ebenfalls überflüssig sind. Zur Sektion Epipactis gehören u.a. alle europäisch-mediterranen Epipactis-Arten außer E. palustris und E. veratrifolia, während die Sektion Arthrochilum ihren Schwerpunkt außerhalb Europas hat und deshalb hier etwas näher vorgestellt werden soll.
Insgesamt ist die Sektion Epipactis sehr einheitlich, was die Unterscheidung der einzelnen Arten oft schwierig macht, während Arthrochilum wesentlich vielgestaltiger ist. Die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Sektionen liegen in der
Struktur der Lippe
:

Sektion Epipactis

Hypochil halbkugelig, kessel- oder pfannenförmig, innen einheitlich braun oder grün gefärbt, starr mit dem Epichil verwachsen
(Bild 1, 2):

 



















Bild 1 (E. helleborine)
 

Bild 2 (E. mecsekensis)
 
 

Epichil dreieckig-herzförmig, so lang wie breit oder wenig länger, meist spitz.
Der Kallus an der Epichilbasis (Bild 1) besteht aus quer orientierten rundlichen, glatten oder runzligen Seitenkalli und einem niedrigen leistenförmigen Mittelkallus, der manchmal fehlt. Bei einigen Arten (z.B. E. atrorubens, E. microphylla) verschmelzen die Teile zu einem kompakten, breit dreieckigen, scharf gezähnten Kallus.

 

Sektion Arthrochilum

Hypochil mit länglichem, ± nach oben gekrümmtem Mittelteil und dreieckig-eiförmigen, nach oben geschlagenen Seitenlappen (bei E. veratrifolia sind die Seitenlappen zu kleinen Zähnchen reduziert), der Mittelteil mit farblich kontrastierenden, nektarabsondernden Warzen. Das Epichil ist vertikal beweglich (wippend) mit dem Hypochil verbunden
(Bild 3, 4):

 



















Bild 3 (E. gigantea)
 

Bild 4 (E. gigantea)
 
 

Epichil unterschiedlich geformt, deutlich länger als breit, nur bei E. palustris halbkreisförmig.
Der Kallus auf dem Epichil (Bild 3) besteht aus 1 oder 2 Längsleisten, deren Länge, Höhe und Dicke je nach Art sehr unterschiedlich ist.

 

Andere Unterschiede sind weniger durchgängig vorhanden oder unauffälliger:

Rhizom:
dick, jährlicher Abschnitt kurz (1-2 cm), sehr selten (E. distans, E. purpurata) gelegentlich verzweigt und dann eine dichte Gruppe von Trieben bildend.

Blüten:
kleiner, fast immer nur ± glockig geöffnet.

Säule:
kurz, gedrungen (Bild 5).

 

Bild 5 (E. helleborine)

 

Wuchsort:
an Wald oder zumindest die Nähe von Bäumen oder Sträuchern gebunden, je nach Art trocken, frisch oder feucht bis nass.

Mykotrophie:
Je nach Art mäßig oder stark an Pilze gebunden, daher praktisch nicht kultivierbar.


bei eingen Arten dünn mit längerem jährlichen Zuwachs und oft stark verzweigt, so dass große horstige oder rasige Gruppen von Trieben entstehen können.


größer, weit geöffnet.


länger, schlanker (Bild 6).

 

Bild 6 (E. gigantea, vorderer Seitenlappen entfernt)

 


keine enge Bindung an Holzgewächse, meist auf freien Flächen an feuchten bis nassen Stellen.


Als erwachsene Pflanze keine Bindung an Wurzelpilze, daher leichter kultivierbar.

Die Areale

Das Areal der Sektion Epipactis reicht von der Atlantikküste Europas im Westen bis zur Pazifikküste Asiens einschließlich Japan und Taiwan im Osten, von der subarktischen Klimazone Lapplands (E. atrorubens) und Kamtschatkas (E. papillosa) im Norden über die gemäßigte bis zur mediterranen Zone Nordwestafrikas (E. tremolsii) und Chinas im Süden.

Das Arthrochilum-Areal ist größer mit südlicherem Schwerpunkt, es erreicht von der Atlantikküste Europas nach Osten über den Pazifik hinaus das westliche Drittel Nordamerikas, von den gemäßigten Breiten reicht es nach Süden bis in die Tropen: in Ostafrika bis 15° südliche Breite, in Asien bis nach Vietnam und Thailand.

Die Arten

Zur Sektion Epipactis gehören mit Ausnahme von E. palustris und E. veratrifolia alle europäisch-mediterran-vorderasiatischen Arten. Aus dem Himalaya und China sind eine Reihe weiterer Arten beschrieben worden, die von den Bearbeitern der Regionalfloren (Orchids of Bhutan, Flora of China) mit mehr oder weniger Berechtigung zu Synonymen von E. helleborine erklärt werden.
Mit Sicherheit selbständige Arten sind Epipactis tangutica SCHLECHTER 1919, eine kleinwüchsige, wenigblütige und möglicherweise autogame Art aus China (Perner & Luo, Orchids of Huanglong: 123-126) und E. papillosa Franchet & Savatier 1879, deren Areal NO-China (Mandschurei), das pazifische Russland mit Kamtschatka, Korea und N-Japan umfasst. Epipactis papillosa  unterscheidet sich von E. helleborine durch die papillös-weichhaarigen Blattadern und –ränder (VAKHRAMEEVA et al., Orchids of Russia and adjacent countries: 167-169, Tafel 18).

Die Sektion Arthrochilum umfasst zur Zeit 13 Arten. Nach der Art des Rhizoms und der Blattform lassen sich 2 Artengruppen unterscheiden. Ein Teil (Gruppe A) hat ein dickes, kurzes Rhizom und breite, spitz eiförmige Blätter, entspricht in diesen Merkmalen also der Sektion Epipactis. Die übrigen Arten (Gruppe B) haben ein dünnes, kriechendes und oft stärker verzweigtes Rhizom mit schmäleren, eilanzettlichen bis lanzettlichen Blättern.

Literaturzitate mit *: --> mit Farbbild

Epipactis africana RENDLE 1895 (Gruppe A) ist mit bis zu 3 m Größe die Riesin der Gattung. Die langgestielten, 4-5 cm großen Blüten sind gelbgrün mit rotbrauner Lippe, auffallend sind die langen und schmalen Seitenlappen des Hypochils.
O-Afrika von Äthiopien bis Malawi und Kongo in flussbegleitenden Wäldern, Bergwäldern und feuchtem Grasland von 1300-3750 m Höhe.
P. CRIBB, Orchidaceae Part 2 in Flora of Tropical East Africa (1984): 241-242
S. EDWARDS, S. DEMISSEW & I. HEDBERG, Flora of Ethiopia and Eritrea 6 (1997): 251-252
*I.F. LA CROIX, E.A.S. LA CROIX & T.M. LA CROIX, Orchids of Malaŵi (1991): 27-29 + Plate 3
G.V. POPE, Flora Zambesiaca 11, Part 1 (1995): 14-15
*J. STEWART & B. CAMPBELL, Orchids of Kenya (1996): 111

Epipactis alatus1) AVERYANOV & EFIMOV 2006 (Gruppe A) ist eine kleinwüchsige Art (Typus 22 cm groß) mit dünnem Stängel. Die 2-6 langgestielten Blüten sind sehr klein (knapp 1 cm Ø), rosafarben, nicht resupiniert mit nach oben stehender Lippe und seitlich flügelartig ausladender Narbe.
1) grammatisch korrekt müsste es eigentlich alata heißen, Epipactis ist weiblich.
Vietnam, Provinz Ha Giang, in Nadelwäldern auf Sandstein in 1100-1150 m Höhe.
*L. AVERYANOV & O. GRUSS, Die Orchidee 60 (2009): 247-249

Epipactis atromarginata SEIDENFADEN 1992 (Gruppe B) wird bis 100 cm groß mit 2-2,5 cm großen Blüten; Sepalen und Petalen gelb mit dunkelpurpurnem Rand, Hypochil-Seitenlappen halbrund, nur eine flache Schale bildend, hellgelb mit roten Adern, Epichil schmal, dick fleischig mit kleinem Mittelkallus, dunkelrot.
Vietnam, Prov. Kon Tum und Quang Tri, auf Felsen an und in Flüssen an offenen Stellen im Wald auf 400 m Höhe.
L. AVERYANOV, Turczaninowia 9(3): 63 (2006)
G. SEIDENFADEN, Opera Bot. 114: 22-23 (1992)

Epipactis flava SEIDENFADEN 1978 (Gruppe A?) ist 30-40 cm groß mit gelben Blüten von 2 cm Ø; Hypochil-Seitenlappen dreieckig, Epichil schmal, fleischig mit kleinem behaarten Mittelkallus, Anthere dunkel behaart.
Thailand, Prov. Kanburi; Laos? Auf Felsen in Flüssen auf 200 m Höhe.
G. SEIDENFADEN, Dansk Bot. Arkiv 32: 116-117 (1978)

Epipactis gigantea DOUGLAS ex HOOKER 1839 (Gruppe B), die einzige in Amerika einheimische Epipactis-Art, ist mit bis zu 1,40 m Größe zumindest für nordamerikanische Orchideen ein Gigant. Das leicht bewegliche zungenförmige Epichil der 3-4 cm großen Blüten hat ihr in Amerika den Namen Chatterbox (Plappermaul) eingetragen.
Westliches Drittel Nordamerikas von British Columbia bis Mexiko, von fast Seehöhe in Kalifornien bis 3000 m Höhe in Colorado. An offenen, feuchten bis nassen Stellen, im Überschwemmungsbereich von Wasserläufen.
*R.A. COLEMAN, The Wild Orchids of California (1995): Plate 13-14
*J. LIGGIO & A. Orto LIGGIO, Wild Orchids of Texas (1999): 94
*C.A. LUER, The Native Orchids of the United States and Canada excluding Florida (1975): 78-79

Epipactis humilior (TANG & WANG [1951]) CHEN & ZHU 2003 (Gruppe B) wird nur bis 25 cm groß mit 4-6 eilanzettlichen bis lanzettlichen Blättern und 5-8 etwa 3 cm großen Blüten; Petalen gelbgrün, purpurn überlaufen, Epichil oval, dick, Kallus als 2 Lamellen.
S-China (W-Sichuan, O-Tibet, Yunnan) in Wäldern und feuchten Wiesen auf 2200-2700 m Höhe.
Z. WU & P.H. RAVEN, Flora of China Vol 25 (2009)
S.C. CHEN & G. ZHU, Novon 13: 423-424 (2003)

Epipactis mairei SCHLECHTER 1919 (Gruppe A) ist mit 30-70 cm Höhe eine mittelgroße, kräftige Art mit 5-8 großen, eiförmigen, oberseits rauhen Blättern und 10-20 3(-4) cm großen Blüten. Die Kalli des länglich-eiförmigen Epichils sind breit und dick, im Inneren schwammig (Bild).
Nepal über Myanmar (Burma) bis China, unter Gebüschen, auf feuchtem Grasland und an Flüssen von 800 bis 3200 m Höhe.
Z. WU & P.H. RAVEN, Flora of China Vol 25 (2009)
*S. CHEN, Z. TSI & Y. LUO, Native Orchids of China in Colour (1999): 198
*N.R. PEARCE & P.J. CRIBB, The Orchids of Bhutan (2002): 44 + Plate 3;
*H. PERNER & Y.-B. LUO, Orchids of Huanglong (2007):119-122
*Z. YANG, Q. ZHANG, Z. FENG, K. LANG & H. LI, Orchids (1998): 175

Epipactis palustris (LINNÉ 1753) CRANTZ (Gruppe B) ist die einzige europäische Arthrochilum-Art. Innerhalb dieser Sektion fällt sie auf durch das schneeweiße, sehr breite, halbkreisförmige Epichil und den kurzen, kissenförmigen Kallus.
Vom temperierten Europa nach O bis Mittelsibirien (Baikalsee) und NW-China, auf (Kalk)-Flachmooren und Verlandungszonen von 0 bis 1800 m Höhe.

Epipactis royleana LINDLEY 1840 (Gruppe B) ähnelt sehr der E. gigantea, scheint aber ein deutlich kürzeres Epichil zu haben. Von einigen Autoren (z.B. RENZ) wird sie trotz der großen Entfernung mit Epipactis gigantea vereinigt, allerdings scheint bisher niemand beide Arten lebend vergleichend untersucht zu haben.
Tadschikistan und Afghanistan über N-Indien bis Bhutan, auf nassen Wiesen und an Flüssen, oft im Überschwemmungsbereich bis auf 3600 m Höhe.
*J. RENZ in K.H. Rechinger, Flora Iranica 126: 44-45 + Tab. 15 + 16
*N.R. PEARCE & P.J. CRIBB, The Orchids of Bhutan (2002): 44-45 + Plate 3

Epipactis thunbergii GRAY 1856 (Gruppe B) ist mit 30-70 cm Größe eine mittelgroße Art, auffallend durch den auch im Blütenbereich kahlen Stängel, die breiten gelben Petalen, die bei den leicht nickenden Blüten waagrecht wie ein Dach über der Lippe stehen, und einen Kallus aus mehreren parallelen niedrigen Leisten auf dem Epichil.
Japan, Korea, russisches Amurgebiet, NO-China (Mandschurei)?, auf feuchten Stellen und Mooren.
Z. WU & P.H. RAVEN, Flora of China Vol 25 (2009)
*T. HASHIMOTO & K. KANDA, Japanese Indigenous Orchids in Colour (1981): 72
J. OHWI, Flora of Japan (1965): 334

Epipactis ulugurica MANSFELD 1934 (Gruppe ?) wird bis 1,5 m groß, vielblütig. Blüten 3 cm Ø, gelbgrün bis orange mit roter Zeichnung, außen weichhaarig. Epichil schmal, mit einem Längskallus.
Tansania, Uluguru-Berge, in subalpinem Gebüsch und Nebelwald auf 2150-2500 m Höhe.
P. CRIBB, Orchidaceae Part 2 in Flora of Tropical East Africa (1984): 241-243

Epipactis veratrifolia BOISSIER & HOHENACKER 1854 (Gruppe B) unterscheidet sich von allen anderen Arthrochilum-Arten durch die auf kleine Zähnchen reduzierten Seitenlappen des Hypochils, gleichzeitig ist dessen Mittellappen seitlich verbreitert und vertieft. Auffallend sind auch die außergewöhnlich hohen und scharfen Kalli des Epichils.
Von der SO-Türkei nach O bis S-China, nach S über Israel und Südarabien bis Somalia, an nassen Stellen, Quellen und Flussufern bis 3400 m Höhe.

Epipactis xanthophaea SCHLECHTER 1922 (Gruppe A) wird 40-60 cm hoch, Stängel auch oben kahl, mit 5-10 Blüten von 3 cm Ø und sehr langen Tragblättern. Blüten bräunlichgelb, Lippe gelb, Epichil auf schmaler Basis mit 2 hohen Kalli, Vorderteil breiter, eiförmig.
O- und NO-China auf feuchten Hängen und Wäldern auf 300 m Höhe.
Anmerkung:
Während „Orchids of Russia“ die Pflanzen des Amurgebiets in Russland ebenso wie die koreanischen und japanischen als E. thunbergii bezeichnet, nennt die „Flora of China“ die Pflanzen der unmittelbar angrenzenden Mandschurei E. xanthophaea und gibt E. thunbergii nur für O-China (Zhejiang) an.
Z. WU & P.H. RAVEN, Flora of China Vol 25 (2009)
*M.G. VAKHRAMEEVA et al., Orchids of Russia and adjacent countries: 626-627 (2008)

Lippenformen in der Sektion Arthrochilum
Wolfgang Wucherpfennig
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